…Vor meinem Fenster knattert ein strahlend weißes Sonnensegel im auch um diese Jahreszeit noch warmen Westwind. Über den dunkelblauen Himmel ziehen kleine weiße Wolken und unten am Hafen kommen in bunt gestrichenen Booten die letzten Fischer über das türkisblaue Meer vom nächtlichen Fang an den Sandstrand von Diakofti zurück. Ich sitze bei griechischem Kaffee, Dolmades, einigen Süßigkeiten und den herrlichen Trauben die ich gestern von einer alten Dame geschenkt bekommen habe auf der Terasse meines Hotelzimmers und denke mir: Dieser Tag ist eigentlich zu schön um zu Arbeiten…und doch es muss sein. Ich transkribiere also zwei Stunden lang die gestrigen Interviews und ziehe dann einen Stapel eingesammelter Tourismusprospekte aus meiner Tasche um sie auf Stereotype und Superlative zu durchsuchen…und ja, es stimmt:
Wer immer sich den von mir bereits im Ersten Beitrag dieses Features zitierten Werbespruch „eine Insel, eine Welt“ für Kythera ausgedacht hat, der hatte nicht nur einen sehr feinen Riecher für publikumswirksame Werbebotschaften in Zeiten des Cocoonings bewiesen, er oder sie hatte vielleicht auchein sehr feines Gespür für das Finden abgelegenster und schwer zugänglicher Orte auf dieser Insel, die diesen doch ein wenig nach Center Park, Mini Mundus und Legoland klingenden Werbeslogan einmal nicht Lügen strafen.
Die meisten Besucher – heutige, wie jene des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – waren, als sie nach kleineren oder größeren Strapazen endlich die in zahllosen Mythen und Legenden versprochene Insel der Seligen, als die Kythera auch bekannt ist, erreicht hatten, vor allem eines – bitter enttäuscht.
Weder war die Insel ein irdisches Eden, noch ein überdimmensionales Bordell in dem der freien Liebe gehuldigt wurde, noch standen hier großartige Tempel oder üppige Gärten. Kythera war ganz einfach das, was es immer gewesen war, ein windumtoster, ziemlich trockener und öder Felsen, jenseits des –ebenfalls nicht eben einladenden – Arkadiens, direkt gegenüber des Eingangs zur Unterwelt (der liegt nur etwa 20 Seemeilen von hier entfernt am Fuße des Peloponnes).
Der Eindruck mag heute durch die überall wie Pilze aus dem Boden schießenden Luxusvillen der reichen Australo-Kytheraner und einige villenartige Privatappartmentanlagen etwas gemildert werden, Fakt bleibt aber, dass die Insel, abgesehen von sehr wenigen, sehr guten, vor allem aber immer bedrohten Zeiten nie über große Reichtümer, noch üppig blühende Haine noch über großartige Städte oder goldglänzende Bauten verfügte. Die allermeiste Zeit konnten die Bewohner der Insel froh sein, wenn die mühsam bewirtschaften Äcker, Gärten und Olivenhaine genug abwarfen, dass man davon einigermaßen leben konnte und keine Piraten oder fremde Besatzer die Dörfer und Scheunen plünderten. So waren, abgesehen von einer nie besonders großen und nie besonders reichen Oberschicht die meisten Bewohner einfache Landarbeiter und Bauern, die so garnicht dem entsprachen, was sich der klassizistisch verbildete Gutmensch und Bildungsbürger des 19. und 20. Jahrhunderts unter „edlen Griechen“ so vorstellte (und leider manchmal heute noch vorstellt…).
Liest man die garnicht so alten Beschreibungen, waren die Tsirigotes (so die Selbstbezeichnung der Inseleinwohner) von eher kleinem Wuchs und meist schon in jungen Jahren durch harte Arbeit an der Sonne und der salzigen Seeluft vorzeitig gealtert. Vor allem aber waren und sind die meisten von ihnen gute orthodoxde Christen, keine Hetären und erst recht keine Lustknaben (auch wenn das der eine oder andere venezianische Nobili oder englische Lord anders sah…). Kurz, wer hier sein irdische Gegenstück zum Illysium und/oder seine/n ganz private/n Aphrodite/Apollon suchte, der war an diesem Ort definitiv falsch und ist es meist heut noch (auch wenn es da gewisse Gerüchte um die Urlaubsbekanntschaften einiger jugendlicher Herren mit älteren und manchmal auch garnicht so alten Touristinnen gibt…aber bei welcher Tourismusdestination gibt es die nicht…).
Heutige Touristen sind da meist etwas aufgeklärter, haben vorher im Bedeker gelesen und sind nur noch ganz selten auf der Suche nach einem drittklassigen Bordell, wenn sie den Namen Kythera hören. Was bleibt ist die Suche nach dem irdischen Paradies, und wer darunter Ruhe, eine in weiten Teilen zwar karge, aber dennoch abwechslungsreiche Landschaft, einige kleine, aber wundervoll ausgemalte byzantinische Kapellen, stille Klöster, etwas in die Jahre gekommene Venezianische Festungen, verwunschene Ruinen, ein paar kleine Kaffees und Tavernen mit bodenständiger Küche und freundliche Menschen versteht, der ist hier – zumindest in der Nebensaison – ganz gut aufgehoben.
Kythera ist – noch – nicht der typische Yuppie-Treff wie Mykonos oder Santorini. Auch fehlt ihr die elitäre Abgehobenheit von Hydra, oder die Menschenmassen von Rhodos, Zypern oder Kreta (auch wenn’s im Sommer durchaus mal eng werden kann). Zwar genießt die Insel aufgrund der vielen reichen Exil-Kytheraner die hier im Sommer „Heimaturlaub“ machen und sich dafür anstatt der alten Bauernkate des Großvaters auch mal die eine oder andere Ferienvilla mit Ausblick gönnen, schon jetzt bei den Festlandsgriechen den zweifelhaften Ruf einer „Insel der Reichen und Schönen“, aber deswegen ist sie noch lange nicht ein zweites Ibiza oder Marbella.
Wenn man nicht eben im Juli oder August kommt ist Kythera eher ein verschlafen daliegendes Stück Felsen im Mittelmeer auf dem es sich dank des in der Diaspora erworbenen Reichtums und des in den letzten Jahren langsam anlaufenden Tourismus inzwischen auch recht gut leben lässt. Gerade in den Wintermonaten, wenn wegen des Sturms manchmal tagelang keine Fähre geht und der Strom gelegentlich für einige Stunden ausfällt, verläuft das Leben hier etwas ruhiger als auf dem Festland – wenn auch manchmal eher notgedrungen als freiwillig. Man muss in dieser Jahreszeit etwas Zeit mitbringen, bereit sein selber aktiv zu werden anstatt Rundumbespaßung zu erwarten und vor allem keine Angst vor dem Alleinsein, Ruhe, kurvigen Straßen, steilen Klippen und körperlicher Anstrengung haben. Manches geht hier eben nur zu Fuß und gutes Schuhwerk, gepaart mit Trittsicherheit und ein paar basalen Kletterkenntnissen sind gelegentlich auch ganz nützlich… Ist man dazu bereit, öffnet die Insel und ihre Bewohner einem auch und gerade in der Nebensaison bereitwillig Tor und Tür. Und was man dahinter oft an ganz unerwarteten Orten und etwas versteckt in einer Schlucht oder auf einem unzugänglichen Bergrücken findet lohnt allemal den Besuch.
Da sind zunächst die zahlreichen Grotten und Höhlen, die verwunchenen Schluchten mit ihren kleinen Bächen und Wasserfällen in denen im Oktober Trauben geerntet werden, die Bananenstauden in voller Blüte stehen und Gänse und Enten zusammen mit Fischen und geisterhaft bleichen Süßwasserkrabben in kleinen Teichen schwimmen. Da ist das raue, von Wind zerzauste und in strahlendes Heidekrautpurpur gehüllte Hochland, da sind die himmelhoch aufragenden Felsen und Klippen um die Bussarde und Raben ziehen und auf denen alte Wachtürme und neue Militärantennen stehen. Da sind die zahllosen, leider meist geschlossenen Kapellen (so langsam glaube ich es gibt mehr davon als Einwohner…) in deren Inneren sich, sofern man es fertig bringt den Schlüssel zu organisieren, oder zufällig zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ist, die herrlichsten Fresken verbergen.
Traumatischer Erinnerungsort – Paleochora
Aber da sind auch die dunklen Orte, wie die Ruinenstadt Paleochora. Glaubt man der lokalen Überlieferung geschah hier im Jahr 1571 Grauenvolles. Nachdem die den Ort umgebenden Schluchten bisher sämtliche Angreifer abgehalten hatten, hatte Chairedin Barbarossa – ein in osmanischen Diensten stehender algerischer Korsar (man könnte weniger nett auch von Pirat und Sklavenhändler sprechen), dessen Prunkgrabmal man noch heute in Istanbul bewundern kann – in diesem Jahr zum erfolgreichen Angriff auf die damals noch unter dem Namen „Agios Dimitrios“ bekannte Hauptstadt der Insel geblasen. Angeblich hatten die rauchenden Kamine der Stadt den Piraten ihre Lage verraten. Diese waren mit schwerem Geschütz auf die umliegenden Hügel gestiegen und beschossen nun aus vollen Rohren die Stadt. Es dauerte nur Stunden bis den ca. 1000 Einwohnern klar wurde, dass die mittelalterlichen Mauern keinen ausreichenden Schutz vor den neuzeitlichen Feuerwaffen bieten würden. Und so kam es, wie es kommen musste: Um nicht, wie ihre weniger glücklichen Mit-Insulaner, die die Piraten längst in den weniger gut geschützten Dörfern der Insel zusammengetrieben und als Menschliche Fracht auf ihre Schiffe verladen hatten, in der Sklaverei zu enden oder noch schlimmeres zu erleben, stürzten sich die Überlebenden des Angriffs mitsamt ihren Kindern und Kindeskindern von den Zinnen der brennenden Stadt in den Tod. Die einst blühende Hauptstadt der Insel war mitsamt ihren Bewohnern ausgelöscht worden, und sie sollte nie wieder besiedelt werden.
Als Geistes- Migrations- und Medienwissenschaftler weiß man aus Erfahrung, dass solche Traumata Wunden hinterlassen, die nur sehr, sehr langsam heilen und für die die Menschen ihre ganz eigenen Erklärungen und Trauerrituale entwickeln. Auch auf Kythera war dies nicht anders. Glaubt man den älteren unter den Einheimischen, ist der Ort bis heute verflucht und die ruhelosen Seelen der Toten irren noch immer auf der Suche nach ihren verschwundenen Angehörigen in den Ruinen der einstigen Inselhauptstad umher. Auch wird erzählt, dass ihre Entsetzensscheie und Klagen noch immer durch die Schluchten hallen. Und Nachts würden über der Stadt und in den Schluchten kleine statt der üblichen Totenkerzen seltsame Irrlichter über den verstreuten und ausgebleichten Knochen der zahllosen Toten Wache halten. Nach der Auslöschung der Stadt und ihrer Bevölkerung sei einfach keiner mehr da gewesen, der für die vielen hundert Toten und Vermissten beten und eine Kerze hätte anzünden können, so würden das die Toten selbst tun.
Auch wenn diese Legenden in den letzten Jahren zunehmend verblasst sind, und auch dieser im Gedächtnis der Kytheraner traumatische Erinnerungsort von findigen Tourismusmanagern zunehmend zu einer „Attraktion“ ausgebaut wurde, Auch wenn in den letzten Jahren mit ersten, nicht immer sehr fachgrerecht durchgeführten Sicherungs- und Renovierungsarbeiten begonnen wurde – Es soll es bis heute Kytheraner geben, die sich strikt weigern das alte Agios Dimitrios zu betreten. Die einen aus Respekt vor den Toten, die anderen aus Angst die Toten könnten sich für das angeblich mangelnde Interesse, das man ihnen in den letzten Jahrhunderten entgegenbrachte an den Lebenden rächen.
Auch wenn das alles in den Bereich der Legende gehört – wirklich geheuer ist mir der Ort auch nicht, vor allem nicht bei schlechtem Wetter oder gegen Abend. Auch ich bin ich jedesmal heilfroh, wenn irgendwoher ein paar Geisen oder ein paar verirrte Wanderer daherkommen und ich nicht ganz mutterselenallein mit den Toten durch die Ruinen streichen muss…Genausowenig kann ich mich auch mit dem neuen Touristenparkplatz und einer rabiat durch die Ruinen getriebenen Zufahrtsstraße anfreunden…Ehrlichgesagt, als Europäischer Ethnologe, Archäologe und Kunstgeschichtler, der durchaus auch etwas von Bauforschung und Denkmalpflege versteht, bin ich sogar ziemlich sauer auf die kytheranischen Behörden. Die Bauarbeiter, die die Ruinen als Touristenattraktion herrichten sollten waren offensichtlich nicht unbedingt gelernte Restauratoren (oder aber, sie haben einfach nicht gemacht, was man ihnen gesagt hat). Mit Sicherheit aber waren sie offensichtlich zu faul die schweren Zementsäcke per Schubkarre die paar Meter vom neu angelegten Parkplatz zu den Ruinen zu karren. Wie in Griechenland in solchen Fällen leider oft üblich, entschied man sich für einen einfacheren Weg. Man nahm einfach einen Bulldoser rammten damit durch die Pampa und machten dabei nicht nur die einheimische Flora und Fauna, sondern gleich auch noch die Ruinen der halben Vorstadt platt. Dass der ehemalige Provedittorenpalast jetzt aussieht als sei er bei einem Zahnbleaching gewesen ist da noch ein kleineres Problem, dass die Witterung in den nächsten Jahren hoffentlich korrigieren wird. Dass man aber das, was beim „restaurieren“ übrig blieb einfach neben eine der Kapellen gut sichtbar in der Landschaft entsorgt spricht für ein Ausmaß an Diletantismus wie er kaum zu Überbieten ist…
Vermutlich sind das nun aber wieder einmal die typisch abgehobenen Problemchen und Empfindlichkeiten eines „Geisteswissenschaftlers“. Wen interessiert es denn angesichts der aktuellen griechischen Finanzkriese schon noch, dass unter den umgestürzten Wänden und in den Schluchten des neu erkorenen Tourismusattraktion noch heute die Überreste der unglücklichen Bewohner einer ganzen Stadt liegen? Wer schwert sich schon darum, wenn man auf den Gebeinen der Toten einen Parkplatz baut und ein paar rissige Mauern abreißt und die restlichen mit etwas Zement aufmöbelt, damit die Touristen nicht stundenlang über Ziegenpfade hierher wandern müssen und „den richtigen Eindruck“ bekommen? (Und ja, der Ausblick ist atemberaubend schön) Ist es denn wirklich so schlimm, dass keine Hinweistafel auf das Schicksal dieses Ortes und seiner Einwohner hinweißt? (es gab einmal eine, die ist aber seit der letzten Restaurierung 2012 „verschwunden“ – vermutlich passte sie nicht mehr ins Konzept des hippen Ausflugsortes), und kein Kreuz, oder Denkmal an die Verschleppten und Toten erinnert. Ja es gibt – und hier bewahrheitet sich die Legende – an diesem Ort noch nichteinmal einen Bildstock oder ein ewiges Licht das für die Toten entzündet werden würde und ob in den vielen umliegenden Kapellen in den letzten 100 Jahren irgendjemand an sie, die sie einst erbaut und ausgeschmückt haben, jemand der verschwundenen Mütter, Väter und Kinder gedacht hat, die einst hier lebten – ich weiß es nicht. Auch sie liegen einsam und verlassen da, und nicht wenige von ihnen sind zu Ruinen verfallen oder dienen als Unterstand für die allgegenwärtigen Ziegen. Von den zwischen den Gebeinen der Toten (man findet sie mit etwas Anstrengung immer noch) ahnungslos picknickenden Touristen und den Gerüchten um neuerdings auch hier mit Metallsonden umherstreifenden „Hobbyarchäologen“, die die Ruinen nach übriggebliebenen Schätzen durchwühlen und dabei auch noch die letzen übriggebliebenen Mauern zum Einsturz bringen fang ich nun besser garnicht erst nicht an…
Auf der anderen Seite – wer sagt mir denn, ob die Toten von Agios Dimitrios über das ganze moderne Treiben so unglücklich sind. Zu ihren besten Zeiten war die Stadt ein Schmelztiegel aller Kulturen des Mittelmeerraums. Flüchtlinge und Zuwanderer aus Byzanz und Monemvasia, der Östlichen Ägais, von Zypern, Samos und Kreta und noch entfernteren Orten und Inseln hatten hier eine – vermeintliche – Zuflucht gefunden. Sie hatten ihre Kunst, Musik und auch einen Gutteil ihres Reichtums mitgebracht. Ihre unterschiedlichen Kulturen, Kunststile, Bau- und Lebensweisen verschmolzen im neu zur Hauptstadt der Insel aufgestiegenen Agios Dimitrios mit jener der Venezianischen Gouvaneure und Soldaten zu einer ganz eigenen, schillernden und ungemein produktiven Lebensweise. Auf dem Schmalen Grat über den Schluchten fühlten sie sich alle sicher, bauten dutzende Kirchen und Kapellen, kleine Paläste, Mühlen und Werkstätten, Wohnhäuser und kleine, über dem Abgrund schwebende Gärten.
Leider war dieser kulturelle Blüte nur eine kurze Lebenszeit vergönnt, vielleicht 80, höchstens aber 100 Jahre, dann war Schluss. Wie so oft davor und danach kamen die Feinde wieder einmal übers Meer und Kythera, nicht eben arm an Ruinen, hatte eine Ruinenstadt mehr und war wieder einmal weitgehend verwüstet. Aphrodite, so sagen es bis heute die Alten, sei eine launische Göttin. Sie liebe ihre Kinder genauso überschwänglich, wie sie hassen und strafen könne…Aber es bliebe immer ein Band aus Liebe und Heimweh, dass die Weggegangenen und Verschleppten auf die Insel zürückziehe.
Für nicht wenige Kytheraner wurde diese Erzählung Wirklichkeit. Die Insel war zu karg, zu trocken, zu arm um ihre vielen, vielen Kinder ausreichend zu ernähren. Irgendwann zwischen dem 18. und Mitte des 20. Jahrhunderts sind viele von ihnen ausgewandert. Anfänglich noch in die Nähe: nach Smyrna, Alexandria, Venedig und Piräus, später als die Schiffe größer und schneller wurden immer weiter weg: nach Argentinien, die USA und Australien. Auf der Insel, die in ihren besten Zeiten gute 15.000 Einwohner hatte (von den angeblich 40.000 die sich hier auf der Flucht vor den Deutschen und Alliierten Truppen gegen Ende des II. Weltkriegs drängten ganz zu schweigen), leben heute mit etwas gutem Willen vielleicht 4000 Tsirigotes (so die Eigenbezeichnung der Kyhteraner, nach dem alten venezianischen Inselnamen „Cerigo“) noch auf der Insel. Ihnen stehen weit über 80.000 in der ganzen Welt verstreute „Landsleute“ gegenüber. Die meisten davon in Australien.
Und wie es die Geschichte von der Göttin der Liebe und ihren Kindern erzählt: vergessen haben die Weggegangenen ihre Heimat nie. Überall wo sie hinkamen erzählten sie von der Schönheit und dem Licht der Insel, gründeten Vereine und Organisationen, und hielten „geradezu halsstarrig“ an althergebrachten Gewohnheiten, Sitten und Bräuchen fest und heirateten lange Zeit nur Frauen von der Insel, die dafür um die halbe Welt reisten – Ein Grund, weshalb auf Kythera bereits um 1900 die ersten Fotostudios aufmachten…schließlich wollte man(n) in der Ferne wissen, wie „seine“ Tsirigotissa aussah, die ihm ein treusorgender Cousin oder Onkel nach Sydney, Kapstadt oder New York schickte. Und auch die eine oder andere Dame – immerhin eine Tochter der Aphrodite! – wollte nicht so einfach mit einem dahergelaufenen Nichtsnutz, der vielleicht auch noch schlechte Zähne und ein abstoßendes Äußeres hatte verheiratet sein. Nein…ein Photo gehörte einfach dazu. Außerdem war es oft die einzige Möglichkeit die Lieben in der Ferne an Familienfesten, neuen Erdenbürgern, Trauerfällen oder dem Stolz auf das in der Fremde neu erbaute Geschäft oder – und dafür waren die Kytheraner lange Zeit in der ganzen Welt berühmt – am neuen „Griechischen Caffee“ teilhaben zu lassen. Oft genug waren es allein diese heute verblichenen Photos, die denen die weg gegangen oder zurückgeblieben waren begreiflich machen, was aus ihren Liebsten jenseits des Meeres geworden war. Auf ihnen ließ sich in den Gesichtern der Dargestellten das Alter und die Zeit, seitdem sie fortgegangen waren nachzeichnen, in Form von Totenbildern gaben sie den Zurückgebliebenen die letzte Gewissheit, dass der andere nie zurückkehren würde und die Hoffnung, dass er an einem anderen, fernen Ort einen ruhigen, sanften und guten Tod gestorben war, und nicht etwa einem der „in der wilden neuen Welt“ häufigen wilden Tiere, einem Laster oder irgendeinem anderen Unglück zum Opfer gefallen und fern der Heimat in geweihter Erde beigesetzt worden war. Dort zeugte und zeugt oft genug auch heute noch eine auf eine Emailplatte gebrannte Kopie desselben Bildes als letzte Erinnerung davon, dass auch in Australien, Argentinien oder den USA Kinder der Aphrodite lebten. Gleichzeitig weckten diese Bilder die Sehnsucht: Die der Zurückgebliebenen auf ein besseres Leben in einem Fernen Land, und die der Weggegangenen nach der in ihren Erinnerung zum Paradies gewordenen Heimat. Beide Seiten begannen ihre jeweilige Welt so zu sehen, wie sie auf den Photographien dargestellt wurde, nicht so, wie sie wirklich war.
Und so war es oft eine bittere Enttäuschung, wenn der eine oder andere Nachkomme der Ausgewanderten auf „Heimaturlaub“ oder „Brautschau“ doch auf die Insel zurückkehrte. Kythera war kein irdisches Paradies, sondern eine kleine Felseninsel im Mittelmeer, deren Bewohner viel zu oft nicht wussten wie sie ihre vielen Kinder ernähren sollten. Wirklich gheändert hat sich das , von den wenigen Reichen abgesehen, die es immer gab und geben wird, für die breite Masse der Bevölkerung erst in den 1980er und 1990er Jahren. Und so war es Neben gelegentlichen Besuchen in der Alten Heimat, lange Zeit vor allem eines, das aus der „neuen“ in die „alte“ Heimat zurückkam: Das in der Fremde verdiente Geld der Migranten. Dieses hielt die Insel am Leben. Ermöglichte den Bau von Schulen, Museen, Krankenhäusern und Altenheimen. Nichts, aber auch garnichts hätte in Zeiten von Krieg, Bürgerkrieg und Diktatur ohne dieses Geld funktioniert. Ohne dieses Geld der Migranten hätte Kythera vermutlich das Schicksal vieler anderer einst dicht bevölkerter griechischer Inseln und Landstriche geteilt… Es wäre ein von Ruinen und verlassenen Feldern übersäter Felsen geworden, leer und von jeder Menschenseele verlassen…
Kytherian Outback
Doch es kam – Gott und den „Xeni“ (es wäre nicht ganz richtig dieses Wort mit „Fremde“ zu übersetzen…aber eben auch nicht ganz falsch – mit der Zeit und der halben Welt zwischen einem wurden Zurückgebliebene und Fortgegangene sich ja tatsächlich „fremd“, auch wenn sie das vielleicht garnicht wollten) sei Dank! – ganz anders, und neben ihrem Geld brachten die Kytheraner aus den Ländern in die sie ausgewandert und wieder heimgekehrt waren auch ganz andere Dinge mit. Zwar glaube ich immer noch nicht, dass sie wirklich Känguruhs und Emus auf der Insel ausgesetzt haben (ihre Nachbarn vom Peloponnes behaupten das manchmal schwerzhaft und nennen die Insel wegen der vielen Kythero-Australier auch „Känguruhinsel“) aber dass sie den ganzen Norden der Insel mit Eukalyptusbäumen bepflanzt haben stimmt. Würde dort nicht gelegentlich ein typisch griechischer Bildstock oder ein verwittertes Schild mit griechischen Buchstaben den Weg (nicht) weisen, man könnt emeinen, dass jenseits von Gerakari und Petrouni, nicht Griechenland, sondern der ferne Australische Outback läge, so sehr ähnelt die Szenerie aus Roter Erde und Eukalyptusbäumen dem Kontinent „down under“. Es ist daher nicht ganz zufällig, dass die Kytheraner diesen Teil der Insel (manchmal auch die ganze Insel) „Mikri Afstralia“ – „Klein Australien“ nennen, genauso, wie ihre fortgegangenen Cousins und Cousinen Australien manchmal im Scherz auch „Makro Kythera“ – „Groß Kythera“ nennen.
Wie immer bei „Geschenken“ waren aber auch diese nicht ganz unproblematisch. Nicht nur, dass der eine oder andere neureiche Kythero-Australier sich aufgrund des erworbenen Reichtums seinen daheimgebliebenen Verwandten überlegen fühlte und die Zurückgebliebenen nicht nur mit Dankbarkeit, sondern auch mit Neid und Miderwertigkeitskomplexen auf den offen zur Schau gestellten Reichtum ihrer Verwandten blickten – nein die gutgemeinte Ansiedlung des schnell wachsenden Eukalyptusbaumes, von dem man sich Bauholz und ein kleines Zusatzeinkommen erhoffte, brachte das sensible ökologische Gleichgewicht der Insel derart durcheinander, dass heute ernsthaft darüber nachdedacht wird, die „Bäume der Freundschaft“ wieder von der Insel zu entfernen. Nicht nur, dass sie hier aufgrund des ständigen Windes nicht richtig wachsen wollen, nein, sie trocknen mit ihrem immensen Wasserverbrauch auch die ohnehin durch den Klimawandel schwindenen Wasserreserven der Insel zusätzlich aus und stellen bei den hier alles andere als seltenen Buschbränden ein gewaltiges Problem dar, da ihre mit ätherischen Ölen gesättigten Stämme und Blätter wortwörtlich wie Zunder brennen und dazu führen, dass binnen kürzester Zeit ganze Landstriche in Flammen stehen – Noch allerdings kann sich niemand recht zu diesem Schritt durchringen – zu sehr stehen die Bäume für das gegenseitige Band zwischen der Insel und ihren nach Australien ausgewanderten Söhnen und Töchtern.
Es würde einfach etwas fehlen, wenn der charakteristische Geruch der silbergrünen Blätter nicht mehr die Nachmittagsstunden erfüllte…Ich wende meinen Wagen und fahre über erschreckend steile, meist unbefestigte und von tiefen Regenrinnen durchzogene „Straßen“ wieder Richtung Süden.
Auf dem Weg zurück „in die Zivilisation“ empfiehlt sich ein kleiner Zwischenstop in der heutigen Inselhauptstadt Potamos, allein schon, um nicht zu vergessen, dass es auf der Insel auch ganz reale und sehr lebendige Einwohner gibt. Der Kinderspielplatz neben dem großen, aber etwas schlecht zu erreichenden öffentlichen Parkplatz (irgendwie ist die Einfahrt etwas zu eng und zu steil geraten) ist ein Traum aus Kunstrasen und quietschbunten Spielgeräten, die nicht nur Elefteria und ihren Bruder Jannis, sondern auch die kleine Joselynn aus New York und den kleinen Thorben-Jonas aus Berlin glücklich machen.
Wer am Sonntag kommt, erlebt den Bauernmarkt. Sicher, alles hat seinen Preis, aber dafür bekommt man den herrlichen Singsang des lokalen Dialektes, der voller italienischer, arabischer, türkischer und natürlich vor allem griechischer Wörter steckt umsonst. Wer dann noch Lust auf einen Kaffee oder einen kleinen (oder, wie immer in Griechenland, einen etwas größeren) Snack hat kann es sich in einer der angrenzenden Kaffes und Tavernen gut gehen lassen – sorry Leutles, es nutzt nix, wenn ihr sagt ihr wollt nur etwas Kleines, der dreifachrahmige Honigjoghurt gehört als Gratisdessert einfach dazu, ob ihr jetzt platzt oder nicht, und außerdem MÜSST ihr, wenn ihr denn schon von soweit herkommt einfach noch die extra fettigen (es ist gutes Olivenöl!) zweifach fritierten Käseschnitten probieren…
Nein, Kythera ist kein Abnehmcamp, auch wenn man den ganzen Tag in den Felsen herumklettert, oder einem mal wieder bei einer besonders steilen Abfahrt mit dem kleinen Hundai der Angstschweiß auf der Stirn steht…schon garnicht weil meine Zimmerwirte offensichtlich der festen Meinung sind, ich wäre ganz kurz vor dem Verhungern und mir in treusorgender Zuneigung jeden Tag Obst, Gemüse und Kuchen bringen…aber sind es nicht gerade diese kleinen Gesten der liebevoll sorgenden Gastfreundschaft ein sicheres Zeichen dafür, dass hier noch nicht alles komplett durchkommerzialisiert ist. Und ist es nicht genau diese noch nicht komplett von ökonomischen Interessen geleitete Einstellung der Einheimischen, weswegen man die Insel immer wieder aufsucht?
Fragt sich, wie lange dies noch so bleiben wird…Erste Probleme gab’s schon in den 1990ern als die großen Kreuzfahrtschiffe anlegten. Kaum waren auf einmal 1000 Touris auf einmal auf der Insel, schon wurde jeder Ziegenhierte zum Immobilienspekulanten und in Hora und Kapsali begann das große foppen, neppen, hauen und stechen…jedenfalls so lange, bis es den Agenturen zu dumm wurde und von heute auf morgen keine Schiffe mehr kamen. Der Katzenjammer der touristenlos zurückgebliebenen Kytheraner war groß und nachhaltig, hoffentlich auch der Lerneffekt…Heute ist es eher das Geld der aus Australien und den USA zurückkehrenden Exil-Kytheraner und der Zustrom der wegen der Finanzkriese auf die Insel zuwandernden „Festlandskytheraner“ aus Athen und Piräus, der der Insel zu schaffen macht und das auf Maßhalten angewiesene, labile Gleichgewicht der Insel durcheinanderbringt.
Genug Probeme! Die Insel ist schön, und schon um die nächste Ecke wartet ein neues Wunder. Jedenfalls für die, die sich mit antiker Mythologie auskennen, und ein Faible für Räuberpistolen uns Sagen haben (als echter Volkskundler, Archäologe und Kunsthistoriker, der hier ganz nebenbei auch noch für seine Dissertation forschen darf, hab ich selbstredend für alle drei Dinge eine berufsbedingte Vorliebe!)
Hier geht’s lang!
Und wenn geade sonst nichts los ist, gibt’s eben Sturm…irgendwann um kurz vor acht Uhr morgends fangen dann ein paar Männer draußen an laut rumzubrüllen, zu pfeifen und an die eine oder andere Tür zu klopfen…als erfahrener Nicht-mehr-ganz-Insel-Grünschnabel weiß man spätestens dann, dass nun wieder eine dieser unberechenbaren, mehr oder minder langen, und hochgradig unerfreulichen Überraschungen bevorsteht, oder schon eingetreten ist, die man als Einwohner des doch sehr perfekten Deutschlands nicht mehr wirklich kennt…Man schaut, noch leicht schläfrig aus dem Fenster, und da die Männer diesmal nicht zum Strand laufen (dann wäre irgendwas auf See passiert), sondern auf die Strommasten klettern, braucht man eigentlich garnicht mehr versuchen das Licht oder die Kaffemaschine anzuschalten…es ist – Aphrodite, Boreas, Zeus und Poseidon sei Dank – Stromausfall! Meistens dauert das dann nur ein paar Stunden und Abends ist die Welt dann wieder in Ordnung. Also kein Grund zur Aufregung, außer man muss an dem Tag Ab- oder Anreisen…meist fährt/oder fliegt nämlich dann auch nichts, weil a) Wellen zu hoch, b) Wind zu stark und c) kein Strom (letzteres muss nicht zwingend so sein, oft ist es nur die lokale Hauptleitung die mal wieder mit etwas Klebeband und Draht zum Laufen gebracht werden muss…)
Da ich aber weder vorhabe zu fliegen, noch mit dem Schiff zu fahren ist eigentlich alles halb so schlimm, Kaffee trink ich später einfach da wo’s noch, oder schon wieder Strom gibt, und die Haare trocknen bei dem Wetter zur Not schließlich auch so – und da mich eh den ganzen Tag kaum jemand sieht, muss ich danach auch nicht aussehen wie Brad Pit persönlich…
Es war genau dieser Strand, genau diese Welle! ganz sicher!
Übrigens bin ich, nachdem ich mein Tagespensum an Arbeit erledigt hatte, gestern dann doch noch ganz in den Süden an den Strand von Paliopoli gefahren, habe mich auf den Thron der Aphrodite gesetzt und mir von dort aus in aller Seelenruhe den Sonnenuntergang angesehen, ja Feldforschung kann auch schön sein…
Giassas!
PS: Gerade lese ich, dass es hierher laut Werbeslogan nur „35 Minuten vom Athener Flughafen und 2 Stunden von Europa!“ sind…jeder mag sich jetzt selbst denken, was diese Worte für ihn bedeuten… 😉
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