Spiritus loci
Unbestimmte Ahnungen in einer lebendig gewordenen Schneekugel mit time-out modus zu leben kennen wohl alle Ur- und Wahl-Bamberger. Um so verwunderlicher, dass mich, ausgerechnet als ich letztes Wochenende durch die Gassen Tübingens ging der gedankliche Nachtmahr in einer Zeitschleife gestrandet zu sein verfolgte.
Platanenallée, Hölderlinturm, Österberg, Stiftskirche, Marktplatz, Stift, Schloss…Das Stadt gab sich alle Mühe mich mit Postkartenidyllen und steingewordener Gelehrsamkeit an meine lang zurückliegende Studienzeit im schwäbischen Athen zu erinnern. Sogar die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die von den schroffen Abbrüchen herabfließenden Nebelbänke ins verschlafen daliegende Neckartal. Die steilen, schräggestellten Kopfsteinquader, die an einen Vampyr erinnerde Steinmaske über dem Tor der unteren Bastion, die Bank, deren schwäbische Inschrift stolz verkündet, dass dort“ die sitzen, die immer dort sitzen“ – Bis auf einen schwarzen Museumsraum voller 35.000 Jahre alter Eiszeitkunst schien alles unverändert.
Erst die vielen fremdjugendlichen Gesichter im Tagungsraum machten mich darauf aufmerksam, dass Zeit eben kein Zahnradgetriebe ist, welchesirgendwann Rost ansetzt und schließlich ganz den Geist aufgibt (well stimmt nicht ganz, wenn ich meine Astrophysikerfreunde ernst nehme, funktionierts prinzipiell genauso, nur das Rost Raum heißt und alles so unglaublich lang dauert, dass kein normaler Mensch noch von Zeit sprechen würde…Ewigkeiten wäre wohl das bessere Wort).
Zürück von den Sternen; Inmitten von Renaissancetüren und Burgenromantik bekam die Postkartenidylle eines „perfekten Tagungsortes“ Risse (gut so, ich mag Risse!). Eine wild schäumende Welle US-amerikanischen Aktivierungswahns schien über die einst so „beschauliche“ Disziplin gefegt zu sein und sich in Dynamisierungsdebatten, gutmenschlichen Interventionsphantasien, denglischen Wortneuschöpfungen und unbedingtem Jugendlichkeitswahn Raum zu schaffen.
Nicht, dass mir all dies nicht schon wie zuckende Fledermausschatten von Bücherseiten entgegengeflattert wäre. Auch nicht, dass mir irgendeiner der geäußerten weltbewegenden Gedanken neu oder gar revolutionär vorgekommen wäre; Aber unter den barocken Hochbarockputten schien dies alles seltsam weit entrückt und einer nebelverhangenen Welt anzugehören, von der ich noch nichteinmal annahm, es könne meine sein.
Hier im gründerzeitlich aufgehübschten Fürstenzimmer des Tübinger Schlosses schien alles realer, nüchterner und greifbarer. Gedanken, vorher als aberwitzig verworfen hatte bekamen urplötzlich das Sexapeal beängstigender Inspiration. Kopfknoten, an denen ich mich jahrelang vergeblich abgearbeitet hatte platzten leicht wie Champagnerbläschen und ich fragte mich zwischen Wortmeldungen, inspirierend-leichten Gesprächen und Vorträgen die vorbeihuschten, als seien sie gerade 5 Minuten lang, permanent warum ich nicht früher an diesen Ort gekommen war.
Scheinepiphanien ähneln Opiumräuschen, wahrscheinlich weil dabei Unmengen chemischer Moleküle freigesetzt werden, die sich wie Siamesische Zwillinge gleichen…
Am Ende blieb eine schleimige Schicht Erkenntnis zurück. Tübingen besitzt – trotz Gutmenschen und aller pietistischen Fehlorientierung – etwas, was Bamberg schmerzlich abgeht : Geistige Beweglichkeit, Anregung und Trennschärfe. Die von Malzbierduft durchwehte fränkische Provinz ist Paradies, und wie Paradiese nuneinmal sind, bringen dienen sie eher dem entspannten Genießen, als geistigen Höhenflügen. Wenn Bamberg ein vanillecremeschwangerer Profiterolwindbeutel ist, ist Tübingen staubtrockenes Knäckebrot. Bier gegen Biosprossen…
Die Mähr vom Glauben an einen „spiritus loci“ – dessen unhinterfragte Existenz ich bei meinen „Forschungssubjekten“ stets als so eigenartig befremdlich empfunden hatte – ging mir nun selbst nicht mehr aus dem Kopf. Konnte es sein, dass der Ort die entscheidende Komponente auf der verzweifelten Suche nach Genialität war? Waren allemanisch-schwäbisches Fachwerk, Spitzbögen und Protestantische Wehmut tatsächlich inspirierender, als die barocke Sinnenlust Frankens? Oder liegt das ganze Geheimnis doch in ganz einfachen strukturellen Gründen begraben: Wohlstandsregion (Bamberg liegt auch wenn man’s angesichts der Mietpreise nicht glaubt im bettelarmen Oberfranken!), Eine Landesregierung die sich für Bildung interessiert, anstatt sie mit immerneuen Effiziensnormen abzutöten, „Multipersonenlehrstuhl“ vs. „Einfraubetrieb“, dass dort so viele „große“ nicht nur des eigenen Faches dort aus und eingegangen waren.
Als Kulturwissenschaftler sollte man sich vor postessentialistischen Höhenflügen hüten, dekonstruieren, hinterfragen und kritisch reflektieren…dennoch wurde ich den seltsamen Gedanken, dass Ort und geistige Leistung unmittelbar in Beziehung zueinander standen nicht mehr los. Warum sonst sollten die Bücher so vieler kluger Köpfe sonst so übervoll von Beschreibungen der besonderen Wirkung ganz bestimmter Orte sein? Weshalb sollten so viele Menschen vor mir die Erde von „gesegneten Orten“ in kleinen Beuteln, Gläsern oder anderen Behältnissen an Orte, die weniger „gesegnet“ waren mitgenommen haben und warum schmückten tausende Bilder mit wünderschönen (war Ästhetig gerade nicht noch etwas bourgoise-subjektives?) Landschafts- Gebäude- und Stadtansichten die Wände von Plattenbauwohnungen und Mietskasernen in aller Welt?
Warum sollten da Vinci und Dürer sich sonst so um den goldenen Schnitt und den Zusammenhang von Körper, Ort und Geist bemüht haben.
…Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano…
Der äußere Schein, Körper als Ort, Ort als Körper, Geistortkörper?
Ein gefährlicher Traum, nicht erst seit Juvenal. Zeichnet sich Schönheit nicht stets durch ihren Hang zur Oberflächlichkeit aus? Muss man nicht an Ort und Körper leiden um großes im Geistigen hervorbringen zu können? Braucht es nicht Brüche und Rupturen um die geradlinig-einfachen Bequemlichkeiten eines schlafenden Geistes zu wecken oder gilt heute, in einer Welt, in der alles zu brechen scheint, nicht das Gegenteil? Der schöne Schein als geistiger Inhalt? Leere Worthülsen und hohlgewordene Kategoriegebäude hinter der sich die Skylla des Nichtwissens mit der Carybdis des Nichtwissenwollens Scheingefechte liefern?
Ich philosophiere und ertappe mich noch immer bei dem Gedanken, dass es vielleicht kein Zufall ist, dass ich mir stets „schöne“ Orte zum Leben suche. Es wäre so einfach…zu einfach vielleicht.
Also zurück zur bewussten Hässlichkeit?
Beton statt Stuck, Fachwerk statt barocker Pomp…Das Meta-Narrativ von der Brotlosen Kunst, die in spitzwegschen Dachkammern haust…
Ein Irrgarten von Gespiegelten Phantasmen, die sich einbilden Wissen zu sein…
…Ich nähere mich dem Zen und trinke Jasmintee im japanischen Vorgarten eines Wohlstandsghettos.
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